LICHTENFELS

Täglich mit der Seilbahn zur Arbeit

In El Alto auf 4.060 Höhe interviewt Rebekka Krauß ihre Gesprächspartnerin. Foto: Andreas Motschmann

Ein Forschungsprojekt auf über 4.000 Meter Höhe ist etwas Besonderes. Die Lichtenfelserin Rebekka Krauß setzt aktuell ihre Forschungstätigkeiten seit Anfang September bis Ende Dezember in Bolivien fort. Im Auftrag der Universität Bayreuth weilt die wissenschaftliche Mitarbeiterin zum dritten Mal im südamerikanischen Andenland.

Die Landessprache Spanisch ist kein Problem für sie: Sie hat jahrelang in Argentinien gewohnt. Zunächst mit ihren Eltern, ihr Vater Gottfried ist evangelischer Pfarrer. Er betreute sechs Jahre eine Gemeinde in Buenos Aires. Nun lebt er mit seiner Frau im Ruhestand in Strössendorf. Rebekka wohnte nach ihrem Abitur weitere zehn Jahre in Argentinien. Seit ein paar Jahren wohnt sie wieder in Oberfranken, zuletzt mit Wohnsitz in Lichtenfels.

Krauß arbeitet an einem Forschungsprojekt, das an drei Beispielen aus Deutschland, Bolivien und Benin zeigen soll, wie Menschen, die nie lesen und schreiben gelernt haben, sich im Leben zurechtfinden. So hat Krauß auch etliche Monate in Nürnberg geforscht; ein weiterer Kollege ist für die Forschungsarbeit im afrikanischen Benin zuständig. Dieses interdisziplinäre Forschungsvorhaben verbindet die Lehrstühle Kultur- und Sozialanthropologie und Psychologie an der Universität Bayreuth und ist Teil des Africa Multiple Clusters der Uni Bayreuth. Es wird von Prof. Erdmute Alber und Prof. Kölbl geleitet.

Arbeit in dünner Luft

Krauß ist für die Projektarbeit in Bolivien verantwortlich. Täglich besucht sie Menschen in der Regierungshauptstadt La Paz und vor allem in der nahen „Zwillingsstadt“ El Alto. Von ihrer Wohnung im Stadtzentrum von La Paz fährt sie täglich mit der Seilbahn einige Hundert Meter höher nach El Alto auf 4.060 Meter Höhe. Die junge Stadt El Alto mit dem höchsten internationalen Flughafen der Welt war bis 1985 ein Stadtteil von La Paz.

Mit inzwischen über 1,3 Millionen Einwohnern hat El Alto Boliviens Hauptstadt La Paz in der Einwohnerzahl überrundet: El Alto ist die zweitgrößte Stadt Boliviens. Dieses Wachstum ist die Folge des Zuzugs der Landbevölkerung des Andenhochlands. Die Mehrheit der „Alteños“ und „Alteñas“ pflegt weiter einen starken Bezug zu ihren Heimatdörfern. El Alto wird als größte indigene Stadt weltweit betrachtet. Der politische Einfluss der zum großen Teil zwei- oder mehrsprachigen Bevölkerung ist erheblich. Wichtig für viele, dass ihre Interessen als Aymaras vorangebracht werden.

Wissenschaftlerin lernt Regionalsprache „Aymara“

Dort besucht Rebekka Krauß die meisten ihrer Interviewpartner; fast alle haben in der Kindheit keine Schule besucht. „Unser Interesse gilt den vielfältigen Lernprozessen und deren Bedingungen“, sagt die 51-jährige Wissenschaftlerin über ihre Arbeit. Seit zwei Jahren lerne sie auch die Regionalsprache „Aymara“, erklärt Rebekka Krauß. Es handele sich um eine hochkomplexe Sprache mit unterschiedlichen Strukturen. „Schon einfache Kenntnisse waren für den Vertrauensaufbau bedeutsam.“ Eine weitere Säule ihrer Forschung besteht in dem Kontakt zu Gesundheitseinrichtungen, Bildungszentren, öffentlichen Diensten, sozialen Einrichtungen sowie Finanzinstituten.

Ihre Beobachtungen auf den Märkten seien aufschlussreich. So besucht Krauß zum Beispiel die „16 de Julio“, einen der größten Märkte Lateinamerikas in El Alto; dort beobachtet sie den Lebensalltag und die Rolle von Schriftsprache.

Der Autor dieser Zeilen durfte Rebekka Krauß bei einem Gespräch begleiten. In diesem wurde der Werdegang einer 62-jährigen Bolivianerin beleuchtet. Die Frau hatte nur vier Jahre die Schule in ihrem kleinen Dorf besuchen können. Erst mit knapp 50 Jahren besuchte sie in La Paz nochmals die Abendschule, um ihren Schulabschluss nachzuholen.

Selbstverständlich werden die Daten der Befragten im Uni-Projekt nach Abschluss anonym veröffentlicht; diese münden in eine Doktorarbeit. Im nächsten Jahr wird Krauß vor Ort die Ergebnisse mit Akteuren aus der bolivianischen Erwachsenenbildung, Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen und Forschungsbeteiligten diskutieren. Das Forschungsprojekt arbeitet mit der örtlichen Katholischen Universität und der Universität El Alto zusammen.

Zwei aus dem Landkreis Lichtenfels: Rebekka Krauß (Mitte) trifft Andreas Motschmann und dessen Frau im Zentrum von La Pa... Foto: Andreas Motschmann

Arbeiten ohne formalen Abschluss?

Viele der Menschen, mit denen die Forscherin zusammengearbeitet hat, haben sich auf sehr unterschiedliche Art umfangreiche berufliche Fähigkeiten angeeignet. Manche sind selbständige Mechaniker oder Schneider, manche haben sogar Angestellte; ein geringerer Teil ist in Firmen tätig. Zahlreiche Aymara-Frauen haben ohne formale Bildung als Händlerinnen ein großes Vermögen erworben. Sie sind international vernetzt. Finanzmanagement in El Alto erfolgt meist unabhängig von individuellen Schriftsprachkompetenzen. Etliche sind, unabhängig vom Grad der Schulbildung, sozial und politisch in Nachbarschaftsorganisationen, Gewerkschaften und anderen Organisationen El Altos aktiv.

Ana zum Beispiel: Ein Jahr lang hatte sie als Kind die Schule besucht. Heute hat sie als Vorsitzende ihrer Nachbarschaftsorganisation ein Gesundheitszentrum aufgebaut und soziale Projekte initiiert. Rebekka Krauß stellt fest, dass sie alle sich konsequent für die Bildung ihrer Kinder einsetzen. Sie wünschen sich, dass es die Kinder einfacher haben. Abitur und Studium sind aus ihrer Sicht und Erfahrung hierfür die Voraussetzung. Gleichzeitig vermitteln viele Eltern ihren Kindern die eigenen Fähigkeiten: Von den Eltern lernen die Kinder die Grundlagen des Handels, eine Werkstatt zu führen oder auf dem Land Nahrungsmittel zu produzieren. Die Eltern wollen die Zukunft ihrer Kinder vielfältig absichern.

Welche Rolle spielt die Schriftsprache?

Mit der Forschung wolle sie herausfinden, welche Rolle überhaupt Schriftsprache in El Alto und La Paz spiele, erläutert die Wissenschaftlerin. Auf den Märkten dominiere die mündliche Kommunikation. In den Behörden müssten alle für bestimmte Anliegen zwar Unterlagen einbringen, aber keine Formulare und Anträge ausfüllen. Es sei interessant zu sehen, wie sich etliche Personen, die nur kurz oder nie zur Schule gegangen sind, selbst das Lesen und Schreiben beigebracht hätten. Meistens gibt es konkrete Anlässe: Die Menschen möchten die Korrespondenz in einem Gerichtsverfahren verstehen, ihre Rechte in Behörden durchsetzen und befähigt werden, Einfluss zu nehmen. Andere wollen – als Mitglied einer der unzähligen Freikirchen El Altos – ebenfalls die Bibel lesen und so Verse auswendig lernen können. Manche wollen ihre Kinder und Enkel unterstützen. Dies ist für etliche Mütter ein Motiv, an den staatlichen Alphabetisierungs- und Grundschulkursen teilzunehmen.

Auch hier gilt: Es geht nicht nur um die Vermittlung von Schulinhalten, sondern die Teilnehmerinnen erwerben Fähigkeiten, die ihnen helfen, ein zusätzliches Einkommen zu erwirtschaften. Die Covid-Krise hat auch in El Alto und La Paz viele Personen geschüttelt: Nicht nur Personen mit geringer Schulbildung mussten flexibel reagieren und Lösungen finden. Inocencia verkauft ihre Süßwaren seit Covid nicht nur in El Alto, sondern hat sich einen neuen Markt in der einige Stunden Busfahrt entfernten Kleinstadt Apolo erschlossen. Es lohne sich, sagt sie, sie sei mit dem aktuellen Erfolg sehr zufrieden.

Weitere Informationen gibt es unter www.africamultiple.uni-bayreuth.de.

 

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