Das Interview des Deutschlandfunks mit dem SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich zur aktuellen Lage in Afghanistan und der Mit-Verantwortung deutscher Politik hat mich zutiefst empört, zeigte es doch einmal mehr, dass hier hohle Polit-Phrasen gedroschen werden, anstatt Verantwortung zu übernehmen und Fehler einzugestehen. Der Gedanke, dass während dieses Interviews unter Umständen afghanische Bürger ermordet werden, nur weil sie westlichen Militärs in den vergangenen Jahren als Übersetzer und Unterstützer zur Verfügung standen und von genau diesen nicht rechtzeitig außer Landes gebracht wurden, obwohl die jetzt eingetretene Entwicklung lange absehbar war, ist kaum auszuhalten.
Und für den Teil der Frauen in Afghanistan, die in den vergangenen Jahren erfolgreich ihr Recht auf Bildung, ein eigenes Einkommen und somit auf Selbstständigkeit durchgesetzt haben, ist der Eroberungs-Feldzug der Taliban nicht der Vorhof zur Hölle – es ist die Hölle. Auch sie müssen wie die Ortskräfte täglich mit ihrer Ermordung rechnen.
Wir haben in Deutschland Fachleute, die sich in der Region auskennen und das Desaster vorhergesagt haben, sowohl in den Reihen der Politik (zum Beispiel Norbert Röttgen, Jürgen Todenhöfer, um nur zwei zu nennen) als auch in denen der Militärs. Und es war vermutlich eine so genannte „politische Entscheidung“, entgegen diesen Warnungen die Situation in der Öffentlichkeit schön zu reden und zu verharmlosen.
Ich frage mich, wie es den Eltern und Angehörigen der getöteten deutschen und amerikanischen Soldaten gehen mag, die jetzt den Gedanken ertragen müssen, dass ihre Kinder, Brüder, Ehemänner und Väter für einen absehbar sinn- und wirkungslosen militärischen Einsatz ihr Leben gelassen haben. Ich frage mich aber auch, wie die jüngsten politischen Entscheidungen ausgesehen hätten, wären Angehörige hiesiger politischer Entscheidungsträger in Afghanistan involviert.
Gab es nicht am 31. Juli 2021 in Katar Gespräche zwischen „hochrangigen deutschen Diplomaten und den Taliban“, die mit einer „überraschend deutlichen Zusage der Taliban endete, sich für den Schutz der afghanischen Ortskräfte einzusetzen“? Bei der Betrachtung dieser und vieler weiterer innen- und außenpolitischen Facetten unserer Politik denke ich immer häufiger und mit wachsendem Entsetzen an Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ von 1953 (!), der (Zitat Wikipedia) „zwei Brandstifter in sein Haus aufnimmt, obwohl sie von Anfang an erkennen lassen, dass sie es anzünden werden“ und der noch an das Gute im Menschen glaubt, obwohl der Dachstuhl schon brennt. „Ein Lehrstück ohne Lehre“, wie der Untertitel sagt.
Annette Hildebrandt Lichtenfels
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