
Wenn eine Bombe einschlägt, erschüttert das alles. Der Boden bebt, Hauswände stürzen ein, die Luft vibriert. Die Leben der Menschen, die den Einschlag überleben, werden nie mehr sein wie vorher. Auch sie: erschüttert. „erschüttert“ lautet daher auch der Titel einer Ausstellung der Hilfsorganisation Handicap International, in der OT-Redakteur, Krisenjournalist und Fotograf Till Mayer mit Texten und Fotos von den Schicksalen dieser Menschen erzählt. Nicht zuletzt in Folge der Pandemie ist die Ausstellung jetzt völlig digitalisert im Netz zu sehen. Dort gibt es auch einen Online-Vortrag. Schulen, Universitäten und Organisationen können den Vortrag in Zusammenspiel mit einer Videodiskussion mit dem Autoren nutzen. Gefördert wird das Projekt durch das Bundesministerium für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ).
Wanderausstellung in Deutschland unterwegs
Eigentlich sind die eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Porträts und die Geschichten der Porträtierten nacheinander in verschiedenen Städten Deutschlands zu sehen, in Kultur- und Bildungseinrichtungen, 2019 sogar zum Auftakt im Bundestag. Mayer reist oft mit, erzählt in Vorträgen und Diskussionsrunden von den Begegnungen und Erfahrungen, die er auf seinen Reisen in die Krisengebiete gemacht hat. Spricht mit Schülern, Auszubildenden, Studenten darüber, was es bedeutet, wenn Krieg das Leben erschüttert. Dann kommt Corona. 150 Menschen in einem Raum, Vorträge, Diskutieren? Unmöglich.
Ausgangsbeschränkungen, Kurzarbeit, geschlossene Schulen: In der Corona-Krise scheint es oft, als hätte jemand die Pause-Taste gedrückt. Aber: Die Welt dreht sich weiter. Die Erschütterungen hören nicht auf. 2020 toben weltweit 38 Kriege und Konflikte, Millionen Menschen sind auf der Flucht. Also kommt auch für Till Mayer eine Pause vom Aufklären und Augen-Öffnen nicht in Frage. Deshalb hat er seine Ausstellung digitalisiert und ins Netz gestellt. Und beweist damit, dass das Internet in Krisenzeiten so viel mehr sein kann als Ablenkung, Shoppingplattform oder Online-Konferenzraum.
Mit der Kerze im Behelfsbunker
Wer die digitale Ausstellung besucht, den blickt als erstes eine alte Dame aus dunklen, tiefen Augen an. Sie steht in einem Schutzkeller in der Ukraine, eine Kerze in der Hand. Valentina lebt in Kamyanka in der Ostukraine, wo seit 2014 ein bewaffneter Konflikt mit von Russland unterstützten Separatisten bisher 13 000 Tote gefordert hat – ein Krieg mitten in Europa. Sie ist eine von 13 Menschen, die Mayer für die Ausstellung porträtiert hat. Neben Valentinas Porträt blicken beim Scrollen noch zwölf andere in die Kamera. Kinder, Frauen, junge und alte Männer. Aus den verschiedensten Teilen der Erde, unter anderem aus dem Südsudan, dem Irak, Libanon, aber auch Deutschland. Einigen fehlen Hände oder Beine, manche sitzen im Rollstuhl. Anderen fehlt etwas anderes oder jemand. Beim Klick auf ein Bild öffnet sich ein Textfeld, der Mensch wird zum Schicksal. Die Texte erzählen von den Einschlägen, die diese Leben verändert haben, vom Durchhalten, Überleben, Weitermachen. Man kann das Textfeld schließen, ein Klick nur. Aber die Schicksale bleiben. Seinen Vortrag hat Till Mayer ins Netz gestellt. Vor einer schwarzen Wand spricht er direkt in die Kamera, dazu sieht man Fotos und Filmausschnitte von seinen Reisen. Mayer erzählt die Geschichten dahinter. Vom Ukraine-Konflikt, den er seit Jahren mit zunehmender Fassungslosigkeit begleitet. Von Shahad, einem Mädchen aus dem Irak, das bei einer Detonation ein Bein verloren hat – und dem der Vater noch verschweigt, dass die Bombe auch ihre Mutter getötet hat. Von Halima aus dem Tschad, die, gezwungen von der Terrororganisation Boko Haram, fast zur Selbstmordattentäterin geworden wäre und die eine Bombe beide Beine kostet.

Für Till Mayer ist diese Art der Kommunikation neu: „Sich auf sein Publikum einzustellen, auf Reaktionen zu achten, das macht natürlich einen guten Vortrag aus. Da setzt die digitale Welt Grenzen“, sagt er. „Bei der Aufnahme war es ungewohnt , nicht direkt zu Menschen zu sprechen. Ein Vorteil war es, dass ich Hendrik Steffens und Theresa Wüstefeld gut kenne, die die Produktion übernahmen.“
Geschichten, die nahe kommen
Für den Zuschauer wirkt es, als würde er Till Mayer direkt gegenübersitzen. Der bemüht sich um eine feste Stimme und Blickkontakt mit der Kamera. Nimmt sein Publikum mit in die Leben der Menschen, spricht über sie wie über Freunde oder Nachbarn, so dass einem ihre Geschichten ganz nah kommen. Und man sich fragt: Was hätte man an ihrer Stelle getan? Trotzdem merkt man Mayer immer wieder an, wie die Begegnungen beim Erzählen zurückkommen. Er muss dann kurz schlucken oder zu Boden sehen. Aber er erzählt weiter.
„Oft kam es auch nach den Vorträgen zu interessanten Gesprächen mit Zuhörern“, sagt Mayer über sein Projekt, „Das fehlt mir. Aber natürlich gibt es auch weiterhin Vorträge, bei denen ich vor Ort bin. Im Herbst geht es wieder los. Weiter besteht jetzt die Möglichkeit zu Online-Diskussionen. Premiere ist am 23. Juli im Rahmen der Ausstellung in München.“ Die Digital-Version der Ausstellung wird bleiben, auch nach Corona. Die ersten Buchungen laufen bereits ein. Neben „erschüttert“ wird gerade mit „Barriere:Zonen“ auch ein weiteres Projekt Mayers als digitale Ausstellung konzipiert. Hier geht es um das Thema „Menschen mit Behinderung und Konflikte“. Gefördert werden beide Projekte durch das Entwicklungsministerium.
Wachsam für den Frieden sein

Es macht keinen Spaß, sich die Online-Ausstellung „erschüttert“ anzuschauen. Die Bilder, Texte und Videos berühren, wie man es nicht gewohnt ist aus dem oft flachen Medium Internet. Trotzdem sollte man es tun. Und dann darüber reden, diskutieren, den Link verbreiten. Weil es einem bewusst macht, dass es Dinge in der Welt gibt, die sich nicht auf Pause setzen oder wegklicken lassen. Weil hinter den Geschichten der Menschen immer auch Hoffnung steckt und die Sehnsucht nach einer gerechteren Welt. Und weil Till Mayer recht hat, wenn er am Ende seines Video-Vortrags sagt: „In Deutschland leben wir seit 75 Jahren im Frieden. Das ist ein Geschenk. Dafür sollten wir dankbar sein. Aber auch wachsam.“
Online-Premiere
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