
Olesia ist 19 Jahre alt und plant ihr Studium, als sie stirbt. Wenige Wochen vor ihrem Tod hat Olesia in die Kamera von Till Mayer geblickt, mit schüchternem Halb-Lächeln, Kurzhaarschnitt und kugelsicherer Weste, das Gewehr im Arm. Sie wirkt jung, wie ein kleiner Junge, der Soldat spielt.
Olesia stirbt als Soldatin, eine Studentin wird sie nie mehr werden. Sie ist eine von mehr als 13 000 Menschen, die der Krieg im Osten der Ukraine bis heute das Leben gekostet hat. Der Donbas, auch Donezbecken genannt, war Olesias Einsatzort. „Ein Steinkohle- und Industriegebiet beiderseits der russisch-ukrainischen Grenze“, steht bei Wikipedia. Dass auf ukrainischer Seite seit mehr als fünf Jahren gekämpft wird, dass sie sich die Gräben auch durch die Köpfe und Herzen der Menschen zieht, dass die Industrie in Trümmern liegt – das steht da nicht. Ein Satz fasst das Sterben und Kämpfen nüchtern zusammen: „Seit April 2014 sind Teile des Donezbeckens Schauplatz des Krieges zwischen ukrainischen Truppen und prorussischen Separatisten.“
Bilder, die den Krieg spüren lassen
Till Mayer liefert in seinem neuen Buch ebenfalls nüchterne Fakten, Hintergrundinformationen und eine Chronologie der Ereignisse rund um den Ukraine-Konflikt, den er als Reporter und Fotograf auf zahlreichen Reisen erkundet hat. Aber er liefert dazu auch Bilder und Texte, die einen spüren lassen, was die Fakten für die Leben der Menschen dort bedeuten.
Meist berichtet der OT-Redakteur über die Kriege und Konflikte der Welt aus Sicht der Zivilisten und Helfer. Im Donbas hatte er die Möglichkeit, den Krieg aus Sicht der Kämpfenden zu schildern, mit ihnen immer wieder tagelang im Schützengraben zu leben. Für ihre Geduld ist er ihnen dankbar. Er erinnert: „Auch Soldaten sind Opfer von Kriegen.“

Seine Bilder zeigen Soldaten, die vom Kämpfen müde in die Kamera blicken. Gerippe einst eindrucksvoller Gebäude, zerbombt zu Schutt. Einschusslöcher, Waffen in Händen, die vielleicht getötet haben und vielleicht noch töten werden.
Mayer verschweigt nichts vom Schrecken des Krieges. Aber er porträtiert die Soldaten, die in diesem Krieg kämpfen, immer auch als Menschen. Er spricht mit Sergiy über dessen Kinder, mit Stanislav über seine Lieblingsband, die Scorpions. Und mit Olesia über ihre Studienpläne. Er fragt, warum sie kämpfen – wertet aber nie. Und der Leser spürt: Für manche dieser Menschen ist der Krieg schon so lange Alltag, dass sie unsicher sind, ob sie sich im Frieden zurechtfinden werden, wenn er denn kommt.
Till Mayer zeigt auch den Alltag im Krieg. Ein Abendessen der Soldaten mit Eintopf im Kerzenschein. Menschen, die nahe der Front ohne Strom leben und ihren Gemüsekeller zum Behelfsbunker umgebaut haben. Familien, die vor dem Krieg in andere Landesteile geflohen sind und trotzdem ein Stück davon in den Köpfen und Herzen mitgenommen haben.
Bei Minus 20 Grad und im Sommer am Strand
Seit 2017 bricht Mayer immer wieder auf in die Ostukraine, fotografiert bei Minus 20 Grad die ukrainischen Soldaten im weißen Schneetarnanzug in den Gräben oder Kämpfer in Badehose und mit Kalaschnikow am sommerlichen Strand. „In meiner Heimat Deutschland nimmt von dem Krieg im Donbas kaum jemand Notiz“, schreibt Till Mayer, „er findet in den Medien kaum statt.“ Wie unerträglich muss das sein? Durch den Matsch an der Front zu stapfen, dumpfe Granateneinschläge im Ohr. Nachricht zu bekommen, dass Menschen, die er eben noch gesprochen und fotografiert hat, tot sind. Und gleichzeitig zu wissen, dass viele Menschen zuhause von diesem Krieg nichts wissen, nichts wissen wollen.

Vergessenen Konflikten hat Till Mayer einen Teil seines Lebens gewidmet. Aus aller Welt hat er über sie schon berichtet. Sein nächster Auftrag führt ihn in die Zentralafrikanische Republik.
Die Ukraine und ihre Menschen sind ihm dennoch ganz besonders nahe. Hier begann alles schon 2007 mit einem Buch und einer Ausstellung über KZ-Überlebende. Mittlerweile hat er ein eigenes Projekt mit dem Roten Kreuz aufgebaut, das Rentnern in Not hilft. Auch die Rotkreuz-Schwestern aus Lichtenfels bringen sich hier ein.
Das Buch bringt dem Leser Menschen näher
Nach 136 Seiten Fotos und Fakten zum Krieg im Donbas hat man das Gefühl, den Menschen dort viel näher zu sein als die gut 2500 Kilometer, die zwischen Lichtenfels und der Frontlinie liegen. Und man hat eine schreckliche Frage im Kopf: Kann man sich an einen Krieg gewöhnen? Die Antwort ist noch viel schrecklicher: Anscheinend kann man das. Till Mayer wird das nie können.

Die Geschichte des Kriegs in der Ostukraine ist für ihn noch lange nicht fertig erzählt. „Es fehlen noch so viele Reportagen und Fotos“, schreibt er. Mit seiner vorläufigen Bilanz zu den Toten, den Geistern und den Lebenden in diesem Krieg am Rande Europas will er zum Nachdenken anregen. Darüber, wie es so weit kommen konnte. Welche Gefahr es für uns alle bedeutet, wenn eine Großmacht in Europa Grenzen überschreitet. Und: „Warum wir dazu so schweigsam sind.“
Der Autor und Fotograf
Schon aus über 30 Kriegs- und Krisengebiete berichtete (Foto-)Journalist und OT-Redakteur Till Mayer. Für seine Reportagen, Fotos und Projekte wurde er mehrfach ausgezeichnet. Seit zwei Jahren besucht Till Mayer (www.tillmayer.de) regelmäßig das Kampfgebiet im Donbas (Ost-Ukraine). Dabei entstanden mehrere Reportagen für Spiegel-Online und seine Stammredaktion. Die Ergebnisse der Reisen sind jetzt in einem Bild- und Reportagenband zu sehen: „Donbas - Europas vergessener Krieg“ (Erich-Weiß-Verlag). Till Mayer gibt ungewohnte Einblicke in den Alltag in den Schützengräben und Stellungen der ukrainischen Streitkräfte und in das Leben der Menschen, vor deren Haustüren ein Krieg stattfindet. Alte Menschen, die in einen alten Gemüsekeller flüchten müssen, wenn wieder Granaten auf ihr Dorf niedergehen. Die Ludwig Delp Stiftung unterstützte das Buch-Projekt.
„Donbas – Europas vergessener Krieg“, Erich-Weiß-Verlag, 136 Seiten, Hardcover, 18 Euro. Erhältlich in der Lichtenfelser OT-Geschäftsstelle, im Buchhandel oder unter www.erich-weiss-verlag.de.
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