LICHTENFELS

„Die Geschichte sichtbar machen“

Im Gedenken der Verstorbenen: Josef Motschmann legt einen kleinen Stein auf einen Grabstein auf dem jüdischen Friedhof i... Foto: MARKUS DROSSEL

„Dieses Gefühl der Leere. Ich finde das so erschreckend.“ Josef Motschmann lässt seinen Blick über den jüdischen Friedhof am Stadtrand von Lichtenfels schweifen. Wo eigentlich Grabstein an Grabstein stehen sollte, ist nichts. Eine viele Quadratmeter große Rasenlandschaft, umrahmt von einer Hainbuchenhecke, Maschendrahtzaun und Stacheldraht. 157 jüdische Mitbürger wurden hier beerdigt. Nur fünf Grabsteine haben den Gräuel des Nazi-Regimes überdauert.

„Wegweiser wären schön“: Hinter Josef Motschmann liegt ein schlammiger Feldweg. Es ist nicht leicht, in diesen Tagen den jüdischen Friedhof zu erreichen. Wenn man überhaupt weiß, wo man ihn findet. Er liegt weit außerhalb der Wohnbebauung, zwischen Herzog-Otto-Mittelschule und Helmut-G.-Walter-Klinikum. Von der Bushaltestelle sind es nur wenige hundert, dafür matschige Meter.

„Dieser Friedhof wird dem Schutz der Allgemeinheit empfohlen. Beschädigungen, Zerstörungen und jeglicher beschimpfende Unfug werden strafrechtlich verfolgt (§§ 168, 304 StGB).“ Ein schlichtes Hinweisschild in feinstem Amtsdeutsch ist der einzige Hinweis, dass es sich hierbei um ein Gräberfeld handelt. Einem, dem im „Dritten Reich“ so übel mitgespielt wurde. „Ich kenne kein anderes Beispiel in Oberfranken, keinen anderen jüdischen Friedhof, der von den Nazis derart leergeräumt wurde. Da waren die Lichtenfelser im negativen Sinne führend“, sagt der Forscher für jüdische Geschichte am Obermain. Die Lichtenfelser waren gründlich: Die Grabsteine wurden zerschlagen, später abtransportiert und für den Straßenbau genutzt. „Es hätte nur noch gefehlt, dass die Leichen geschändet worden wären.“ Aber auch so war der Frevel an den jüdischen Mitbürgern maßlos. „Nach jüdischem Glauben soll spätestens ein Jahr nach dem Tod ein Grabstein gesetzt werden, um den Schem Tov, den guten Namen, zu ehren. Eben diese Ehrenmale haben die Nazis ausgelöscht.“

Seit über 40 Jahren beschäftigt sich Motschmann mit der Geschichte jüdischer Mitbürger am Obermain. Dafür tauscht er sich oft mit Bezirksheimatpfleger Professor Günter Dippold aus. Beide kämpfen gegen das Vergessen. „Es wäre sicher gut, wenn der Vorübergehende mehr erführe, als dass der Ort dem Schutz der Allgemeinheit empfohlen ist. Ich würde es begrüßen, wenn die Geschichte des Friedhofs – auch durch historische Aufnahmen aus der Zeit vor der Zerstörung – an Ort und Stelle sichtbar gemacht würde“, sagt Bezirksheimatpfleger Dippold dem Obermain-Tagblatt. „Sicher bekäme man neben den wenigen bekannten auch bisher unbekannte Aufnahmen, wenn der Kontakt zu den einstigen jüdischen Familien von Lichtenfels gepflegt würde.“ Josef Motschmann stimmt dem zu. „Der Wanderer, der vorbei kommt, soll informiert sein.“ Er soll innehalten.

Wenig besucht

Der jüdische Friedhof ist normalerweise verschlossen. „Interessenten haben die Möglichkeit, sich bei der Stadtverwaltung den Torschlüssel geben zu lassen“, sagt Manfred Diller, der Geschäftsführende Beamte der Stadt Lichtenfels. Dies hat jedoch seit 2006 keine Privatperson mehr getan. „Die Lage und wohl auch die Tatsache, dass von den ursprünglich 157 Gräbern lediglich noch fünf Grabsteine vorhanden sind, sind wohl die Ursachen dafür, dass er wenig besucht wird.“

Doch sollte man den Friedhof öffentlich zugänglich machen? Bezirksheimatpfleger Professor Günter Dippold äußert Bedenken: „Ich würde es ungern sehen, dass Menschen, die die Würde des Ortes nicht wahren – sei es aus mangelnder Einsicht oder aus Böswilligkeit –, unkontrolliert auf dem Friedhof herumlaufen. Oder dass etwa Hunde dort ihr Geschäft verrichten. Ich denke, es ist richtig, wenn der Friedhof verschlossen bleibt.“ Aber natürlich könnte man den Friedhof, etwa durch Kurzvorträge beziehungsweise Führungen an Ort und Stelle, stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken.

„Hier auf dem jüdischen Friedhof besteht die Gefahr der Anonymisierung. Dass die Deutschen nach dem Krieg gerne Gras über die Sache wachsen lassen wollten, kann man sich hier gut vorstellen“, sagt Motschmann. Lichtenfels zählte früher etliche jüdische Mitbürger. Vor der Arisierung gehörten ihnen oft stolze Bürgerhäuser. Infotafeln an den Bauten gibt es nicht, erst recht keinen Rundweg. Diese Idee aber hält Günter Dippold für gut. „Die Frage ist nur, ob man nicht auch andere Stätten jüdischer Geschichte im Stadtgebiet, also etwa Mistelfeld und Seubelsdorf, oder sogar Nachbarkommunen einbinden sollte. Auch ist die Frage, ob eine Beschilderung richtig ist, ob nicht eine kleine, am besten zweisprachige Broschüre (Deutsch und Englisch) auf Landkreisebene geschickter wäre.“ Günter Dippold und Josef Motschmann fehlen in Lichtenfels vor allem aber auch „Stolpersteine“. Dabei handelt es sich um das mehrfach ausgezeichnetes Projekt von Künstler Günter Demnig, das unter anderem die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus lebendig erhält. Jedes Opfer erhält seinen eigenen Stein – gegen das Vergessen. In Bamberg, Coburg, Altenkunstadt oder Burgkunstadt gibt es sie bereits. Weitere sollen folgen. Motschmann vermisst in Lichtenfels zudem eine Sofie-Seeliger-Straße. Sie war die Frau des jüdischen Volksschullehrers, der in der Pogromnacht grausam mitgespielt wurde. Vier Wochen später wurde sie tot im Main aufgefunden. Ob Mord oder Selbstmord, ist bis heute nicht geklärt. „Der Unterhalt des jüdischen Friedhofs erfolgt stets in enger Abstimmung mit dem Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinde, deren Vertreter sich auch regelmäßig vor Ort informieren“, sagt Manfred Diller. Diese sei mit der derzeitigen Situation vollauf zufrieden.

„Wäre ein positives Signal“

Das OT fragte nach. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, antwortet. „Generell begrüße ich jegliche Maßnahme, die über das einst blühende jüdische Leben in Bayern, speziell in Oberfranken, informiert. Vielen Menschen ist heute gar nicht mehr bewusst, dass die Juden Anfang des 20. Jahrhunderts ein ganz selbstverständlicher Teil der bayerischen Gesellschaft waren“, meint sie. „Vor diesem Hintergrund wäre auch in Lichtenfels eine entsprechende Beschilderung ein positives Signal der Bewusstseinsschaffung. Ferner wäre es wünschenswert, nicht nur über die Geschichte des Friedhofs, sondern vor allem über die Geschichte des einst lebendigen Judentums in der Region umfassend zu informieren, um an das gedeihliche Miteinander zu erinnern. Insofern wäre auch ein Rundweg durchaus eine Erwägung wert.“

1952 ließ die Stadt Lichtenfels im älteren Teil des jüdischen Friedhofs ein Denkmal errichten. Josef Motschmann kann bei dessen Betrachtung nur den Kopf schütteln. „Die Liste der jüdischen Opfer aus Lichtenfels ist nicht vollständig. Auch finden sich auf den Gedenksteinen Namen von Juden aus Altenkunstadt und anderen Orten. Besser, man hätte es bleiben lassen.“ Schon damals hätte es im Stadtarchiv genaue Namenslisten gegeben. Aber diesen „Aufwand“ wollte wohl damals keiner betreiben.

Zur Geschichte des jüdischen Friedhofs in Lichtenfels

Bezirksheimatpfleger Günter Dippold hat 1999 dem jüdischen Friedhof Lichtenfels einen Aufsatz in der CHW-Publikation „,Guter Ort‘ über dem Maintal“ gewidmet. So durften sich seit 1677 wieder Juden in Lichtenfels niederlassen. Die israelitische Gemeinde ist stetig gewachsen: 63 Personen zählte man 1763, 1819 dann 115.

Sie wurden seit 1737 nachweislich auf dem Burgkunstadter Friedhof beigesetzt. Als dieser 1840 erweitert werden sollte, was erhebliche Kosten erwarten ließ, entschloss sich die Lichtenfelser Gemeinde, einen eigenen Friedhof anzulegen. Der Viehhändler Samuel Brüll erwarb von seinem Vetter Michael Brüll einen Acker in der Flurlage „Heide“ und stiftete ihn der israelitischen Gemeinde.

Vorsteher Samuel Ehrmann beantragte, auf diesem Areal einen Friedhof anlegen zu dürfen. Die Regierung von Oberfranken genehmigte dies am 27. November 1840. Schon wenige Tage zuvor war hier das Kind Max Ehrmann beigesetzt worden.

Ein Tahara-Haus gab es auf dem Judenfriedhof nicht. Stattdessen hatten die Juden das Recht, ihre Toten im 1878 errichteten Leichenhaus des städtischen Friedhofs aufzubahren – ein Indiz für die Einbindung in die Bürgerschaft.

Die letzten Personen, die auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt wurden, waren im Januar 1940 der Kaufmann und langjährige Vorsitzende der Kultusgemeinde, Carl Kraus, und im Januar 1941 der Korbhändler Willy Marchand. Der abgelegene Friedhof wurde bereits in den Jahren 1918 und 1930 geschändet. Beide Male wurden Grabsteine umgestürzt.

Der traurige Höhepunkt folgte im „Dritten Reich“: Die Lichtenfelser Nationalsozialisten machten das Areal dem Erdboden gleich. Wohl 1941 wurden die meisten Grabsteine zerschlagen. Die umgebende Sandsteinmauer wurde niedergerissen. Die Steine verwandte man für den Straßenbau. So wurde die Obere Brunnengasse, ein Hohlweg, damit aufgefüllt.

„Ich kenne kein anderes

Beispiel in Oberfranken, keinen anderen jüdischen Friedhof, der von den Nazis derart

leergeräumt wurde.“

Josef Motschmann Forscher der jüdischen Geschichte
Komplett verwüstet: Der jüdische Friedhof Lichtenfels nach der Schändung vor dem Abtransport der Steine. Foto: REPRO: CHW

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