
Der Altenkunstadter Andreas Motschmann wohnt seit vielen Jahren in La Paz, der Hauptstadt Boliviens. Dort gab es am 1. September den Tag des Fußgängers. War er ein Erfolg?
Am 25. November 1973, einem Sonntag, waren Deutschlands Straßen wie leergefegt. Zum ersten Mal galt ein bundesweites Fahrverbot. Vor dem Hintergrund der Ölkrise hatte die Bundesregierung diesen autofreien Sonntag angeordnet. Drei weitere Sonntage ohne Autos folgten. Knapp 50 Jahre später könnten die autofreien Sonntage wieder ein Thema werden. Steigende Spritpreise haben seit einem halben Jahr die Diskussion um Sonntags-Fahrverbote wieder entfacht. Was in Deutschland bisher nur in der Debatte existiert, ist seit vielen Jahren in Bolivien Realität.
Der erste Sonntag im September ist im ganzen Land ein autofreier Tag: Außer Polizei, Rettungswagen und Taxis mit Sondergenehmigungen sieht man kein fahrendes Auto. Dieser Tag des Fußgängers und des Radfahrers wird gemäß einem Gesetz aus dem Jahr 2011 begangen, das den Autoverkehr zum Schutz der Umwelt und zur Durchführung verschiedener pädagogischer, künstlerischer, kultureller und sportlicher Aktivitäten für die bolivianische Bevölkerung aussetzt.
Fröhliche Kinder auf den Straßen unterwegs
El Día del Peatón, auf Deutsch „Der Tag des Fußgängers“ gilt am ersten Septembersonntag von 0.00 bis 18 Uhr. In der Bevölkerung wird der Tag positiv angenommen. Familien in der Stadt genießen diesen Tag. Kinder können endlich ungefährdet auf den Straßen spielen und mit dem Fahrrad fahren. Kleinere Kinder fahren mit Tretautos umher. Eltern schieben gemütlich den Kinderwagen und treffen dabei andere Familien.
Jugendliche verabreden sich untereinander und ziehen fröhlich durch die autoleeren Straßen. Auch der Altenkunstadter Andreas Motschmann genießt mit seiner Frau Cintia und Nichte Betti diesen Tag: „Wir unternehmen jedes Jahr eine größere Wanderung in unserem Stadtteil und freuen uns, ohne Autolärm und verpestete Luft mitten in der Stadt spazieren zu können. Es tut gut, wieder mal die Straßen zu überqueren, ohne auf Autos zu achten. Der Straßenverkehr in La Paz ist chaotisch und gefährlich. Auf Fußgänger wird im Alltag leider wenig Rücksicht genommen, der Zebrastreifen wird von den Autofahrern sehr oft ignoriert. Auch die Fahrradfahrer haben einen sehr schweren Stand; separate Fahrradwege gibt es nicht, die Straßen sind oft sehr eng.“

Covid-Impfkampagnen auf öffentlichen Plätzen
Unterwegs gibt es genügend Einkehrmöglichkeiten, die Gaststätten und Eiscafés und viele Geschäfte sind auch an diesem Sonntag geöffnet. Zusätzlich bauen geschäftstüchtige Einzelhändler am Vortag an jeder Straßenecke ihren kleinen Verkaufsstand auf. So findet sich für jeden Geldbeutel etwas.
Für Fußgänger und Fahrradfahrer gab es an diesem Sonntag wie immer zusätzliche Sport- und kulturelle Veranstaltungen. In diesem Jahr standen Covid-Impfkampagnen mit mobilen Impfzentren in allen Stadtteilen von La Paz im Mittelpunkt. Mit einer Ausweiskopie konnten sich viele Bürger ohne Voranmeldung impfen lassen. Im Vorfeld sagte der Bürgermeister mit Stolz: „Wir haben jetzt fast 90 Prozent mit der ersten und mehr als 50 Prozent mit der zweiten Dosis. So sind wir die Stadt mit den meisten Geimpften in Bolivien“. Im ländlichen Raum ist die Impfquote leider gering.
In 10 Jahren hat sich der Verkehr in La Paz verdreifacht
Der Grund für diesen autofreien Sonntag ist nicht der steigende Benzinpreis. Seit Jahren kostet ein Liter Benzin, dank staatlicher Subventionen, konstant an jeder Tankstelle umgerechnet um die 50 Cent. Der Umweltgedanke steht im Vordergrund. Bedauerlicherweise gibt es in Bolivien noch viele alte Autos. Da sie in den Anden durch die geringe Luftfeuchtigkeit und fast keinen Schnee nicht rosten, gehören alte Autos wie der VW-Käfer zum Straßenbild. Der Nachteil ist eine hohe Schadstoffbelastung. Der öffentliche Verkehr wird überwiegend von tausenden Minibussen und Taxis betrieben. Sicher gibt es seit einigen Jahren auch große Stadtbusse und über die Stadt gleiten einige Seilbahnen. Gleichzeitig hat sich aber in den letzten zehn Jahren der Verkehr in La Paz verdreifacht! So haben wir diesen Tag wieder genossen, er könnte pro Jahr öfter stattfinden!
Durch den Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Sorgen um die Energieversorgung wurden in den letzten Monaten die Stimmen nach autofreien Sonntagen in Deutschland lauter. Die energiepolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Nina Scheer, sagte im März: „Autofreie Sonntage haben uns in der Vergangenheit nicht geschadet und könnten auch in der heutigen Zeit einen Beitrag leisten, wenn eine entsprechende Verknappung dies erfordert“.
Greenpeace fordert zwei autofreie Sonntage im Monat. Die Umweltschutzorganisation schlägt zudem vor, dass Bürger auf jede vierte Freizeitfahrt-Autofahrt über 20 Kilometer verzichten sollten. Mit ihrem Vorschlag stehen die Umweltschützer längst nicht alleine da. Verbraucherschützer plädieren ebenfalls für Einschränkungen des Pkw-Verkehrs.
Der ADAC dagegen lehnte im Mai autofreie Sonntage ab. Um den Spritverbrauch zu senken, rief ADAC-Präsident Christian Reinicke stattdessen zu gemäßigtem Tempo auf den Straßen auf: „Ich glaube nicht, dass es Sonntagsfahrverbote braucht, zumal eine Mehrheit sie ablehnt.“
Der Autor dieser Zeilen hat die Einschränkungen des autofreien Sonntags in Bolivien niemals negativ erlebt, die Vorteile haben immer überwogen. Deshalb würde er in Deutschland solch einen Tag begrüßen. Nicht nur wegen des Aspektes des Energieverbrauchs, sondern vor allem wegen des Aspektes der steigenden Lebensqualität. Zumindest an einem Tag im Jahr wären alle Bürger zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs. Ein Tag mit weniger Hektik und mit mehr Ruhe, Gelassenheit und Zeit für Begegnungen auf der Straße. Sicher wäre es gut, wegen der Planung langfristig jedes Jahr einen bestimmten Sonntag auszuwählen. Aber das wäre doch kein Problem, denn planen können wir Deutschen! Zumindest wird es uns so nachgesagt.
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